Ukraine - Jahresbericht 2016
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- Veröffentlicht: Donnerstag, 01. Juni 2017
Strategische Rahmenbedingungen
Rechtspolitische Ausgangslage
Nachdem eine im März 2015 vom ukrainischen Staatspräsidenten gegründete Verfassungskommission die Arbeit zu Menschenrechten, Dezentralisierung und Justiz aufgenommen hatte, konnte ein Experte der IRZ die Arbeit dieser Kommission fachlich begleiten. Die vorgeschlagenen Verfassungsänderungen im Hinblick auf die Dezentralisierung haben wegen der umstrittenen Regelungen zu den Gebieten Donezk und Luhansk noch keine Mehrheit im Parlament finden können, wohingegen Verfassungsänderungen zur Reformierung des Justizwesens Anfang Juni 2016 verabschiedet wurden und am 30. September 2016 in Kraft getreten sind. Dies geschah zeitgleich mit dem neuen Gesetz „Über das Gerichtssystem und den Status von Richtern“. Danach können Bürgerinnen und Bürger nach Erschöpfung des Rechtsweges die Verfassungsmäßigkeit eines in einem konkreten Verfahren zur Anwendung gekommenen Gesetzes vom Verfassungsgericht überprüfen lassen.
Das Gerichtssystem wird insbesondere durch die Neuschaffung des Obersten Gerichts bis Ende März 2017 reformiert. Das Oberste Wirtschaftsgericht, das Oberste Verwaltungsgericht und das Oberste Spezialisierte Gericht für Zivil- und Strafsachen werden beim neuen Obersten Gericht als Revisionsgerichte integriert. Das bisherige Oberste Gericht der Ukraine wird abgeschafft. Bis zu 200 Richterstellen sind für das neue Oberste Gericht vorgesehen, wobei die Kandidatinnen und Kandidaten für diese Stellen im Rahmen einer Qualifikationsprüfung nun unter anderem auch ihre Vermögensverhältnisse offenlegen müssen. Für das Twinning-Projekt „Strengthening the Institutional Capacity of the Supreme Court of Ukraine in the field of Human Rights Protection at the National Level“, das das Oberste Gericht der Ukraine unterstützt und das im Jahr 2017 beginnen soll, hat die IRZ im Berichtsjahr den Zuschlag erhalten.
Zudem sollen bis Ende 2017 zwei Oberste Gerichte für geistiges Eigentum und für Antikorruptionssachen errichtet werden. Ferner wird stufenweise ab Anfang 2017 ein gerichtlicher Anwaltszwang eingeführt. Die seit 2005 bestehende eigenständige ukrainische Verwaltungsgerichtsbarkeit ist nun auch in der Verfassung der Ukraine verankert. Anfang Oktober 2016 sind nach zum Teil jahrelangen Vorarbeiten maßgebliche Änderungen des Zwangsvollstreckungsrechts in Kraft getreten, wonach zumindest für einen Teil der zu vollstreckenden Forderungen das Institut des privaten Gerichtsvollziehers eingeführt wurde, ebenso wie ein Schuldnerregister. Auch die Möglichkeit zum Beitritt zum Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs innerhalb von drei Jahren ist nun vorgesehen.
Konzeption
Zu den vorgenannten Themenbereichen hat die IRZ die Ukraine bereits über einen langen Zeitraum beraten, und auch im Berichtsjahr 2016 waren zahlreiche Beratungen diesen Schwerpunkten der Verfassungs- und Justizreform gewidmet. Da großenteils auch bereits Änderungen auf einfachgesetzlicher Ebene vorliegen, wird es nun auf die Erarbeitung von untergesetzlichen Normen und auf die Umsetzung in der Praxis ankommen. Daher wird die IRZ die Ukraine auch in Zukunft gerade auf diesen Fachgebieten engmaschig begleiten.
Daneben standen 2016 die Zusammenarbeit mit der ukrainischen Verwaltungsgerichtsbarkeit ebenso auf der Tagesordnung wie die Beratungen zur Bekämpfung der Korruption und praxisorientierte richterliche Fortbildungen. Wesentliche Partner der Zusammenarbeit waren neben dem Parlament und dem Justizministerium das Verfassungsgericht, das Oberste Gericht der Ukraine und die Instanzgerichte in den Regionen der Ukraine, das Oberste Verwaltungsgericht, die Generalstaatsanwaltschaft und die Nationale Richterschule sowie das neu gegründete Nationale Antikorruptionsbüro der Ukraine.
Die erfreuliche Zusammenarbeit mit der Nationalen Ivan-Franko-Universität in Lwiw zur Förderung des juristischen Nachwuchses hat die IRZ 2016 ebenfalls fortsetzen können. Inzwischen wurde der siebte Jahreskurs des deutschsprachigen Begleitstudiums zur Einführung in das deutsche Recht eröffnet.
Die IRZ konnte sich wie in den Vorjahren auf die Zuwendungen des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz und auf Projektförderungen des Auswärtigen Amts stützen.
Tätigkeitsschwerpunkte 2016
Verfassungsrecht / Menschenrechte und deren Durchsetzbarkeit
- Fachgespräch mit Richtern des Verfassungsgerichts der Ukraine zu Fragen des Verhältnisses zwischen Verfassungsgericht und Exekutive sowie zu supranationalen Gerichten und zur Einführung der Verfassungsbeschwerde in Berlin
- Fachgespräch mit Richtern des Verfassungsgerichts der Ukraine zu Fragen der demokratischen Grundordnung, der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sowie der Gerichtsorganisation in Bonn
- Arbeitsbesuch von Vertreterinnen und Vertretern der ukrainischen Richterassoziation zum Thema „Europäische Menschenrechtskonvention“ in Heidelberg und Straßburg
- Fachkonferenz aus Anlass des 20-jährigen Bestehens des Verfassungsgerichts der Ukraine in Kiew
- Teilnahme eines ukrainischen Verfassungsrichters am IRZ-Panel im Rahmen einer OSZE-Konferenz in Warschau
Rechtspflege
- Arbeitsbesuch einer Delegation der Nationalen Richterschule der Ukraine zu den Themen „Juristische Prüfungen, Richterauswahl, Richterbewertungen und Richterfortbildung“ in Trier, Düsseldorf und Köln
- Studienreise einer ukrainischen Delegation zum Thema „Juristenausbildung in Deutschland“ in Bonn, Düsseldorf und Köln
- Multilaterale Konferenz beim Berufungsgericht Lviv zum Thema Pressearbeit, Interessenkollision, Courtmanagement (mit dem Oberlandesgericht Köln, dem Berufungsgericht Krakau und dem Appellationsgericht Arnhem-Leeuwarden)
- Arbeitsbesuch von Vertreterinnen und Vertretern des Berufungsgerichts Kiew beim Oberlandesgericht Oldenburg und Landgericht Aurich
- Konferenz zum Thema „Fortbildung des Rechts“ beim Obersten Gericht der Ukraine in Kiew
- Teilnahme ukrainischer Richterinnen und Richter an der multilateralen Konferenz der „Memorandumgruppe“ der Richterassoziationen zum Thema „Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung als Aufgabe für die Obersten Gerichte“ in Chişinău
- Arbeitstagung zur Textarbeit an den Durchführungsverordnungen zum neuen ukrainischen Zwangsvollstreckungsrecht in der IRZ in Bonn
- Fachgespräch für Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte in Kiew zu den Themen Regulierung des Rechtsberatungsmarktes, Anwaltsmonopol und Berufshaftpflicht
- Fachgespräch für Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte in Odessa zu den Themen „Kostenlose Rechtshilfe, richterliche Unabhängigkeit und Zugang zum Recht“
- Zweites südukrainisches Forum „Mediation und Recht“ in Odessa
- Richterfortbildungsseminar zur Schiedsgerichtsbarkeit mit der Richterassoziation der Ukraine in Dnipro
- Hospitation zum Gerichtsvollzieherwesen in Deutschland
Öffentliches Recht
- Zwölftes deutsch-ukrainisches verwaltungsprozessrechtliches Kolloquium beim Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz und VG Koblenz
- Seminar zum Verwaltungsprozessrecht und Verwaltungsverfahrensrecht am Verwaltungsgericht Zaporishya
- Teilnahme eines ukrainischen IRZ-Experten am GIZ-Forum zum Verwaltungsrecht in Leipzig
- Mehrfache Teilnahme an internen Beratungen des Justizministeriums der Ukraine zum Entwurf des Verwaltungsverfahrensgesetzes in Kiew
Strafrecht und Strafvollzugsrecht
- Fortbildung und weitere Fachgespräche für Ermittlerinnen und Ermittler des Nationalen Antikorruptionsbüros der Ukraine (NABU) in Kiew
- Richterfortbildungsseminar zur Korruptionsbekämpfung mit der Richterassoziation der Ukraine in Kiew
- Fachgespräch mit der Abteilung für Vermögensrückgewinnung der Nationalen Polizei der Ukraine in Kiew
- Teilnahme eines IRZ-Experten an der Internationalen Konferenz der Generalstaatsanwaltschaft der Ukraine zur Rolle und Reform der Staatsanwaltschaft in Kiew
- Richterfortbildungsseminar zum Strafprozessrecht mit der Richterassoziation der Ukraine in Chernivtsi
- Arbeitsbesuch für Vertreterinnen und Vertreter des Nationalen Antikorruptionsbüros der Ukraine in Wustrau und Berlin
Aus- und Fortbildung
- Begleitstudium zur Einführung in das deutsche Recht mit europäischen Bezügen an der Nationalen Iwan-Franko-Universität in Lwiw
- Forschungsaufenthalt für die beste Absolventin des IRZ-Begleitstudiums zum deutschen Recht an der Universität Lviv in Deutschland
- Arbeitsbesuch von Vertreterinnen und Vertretern der Universität Lwiw zum Thema Juristenausbildung in Deutschland, Passau und München
EU-Projekt
Ausblick
Die Umsetzung der genannten Verfassungsänderungen in die Praxis nicht nur im Bereich der Verfassungsgerichtsbarkeit, sondern im gesamten Justizsystem wird in der näheren Zukunft sicher breiten Raum einnehmen. Hier wird es um Fragen der Verfassungsbeschwerde, der neuen Rolle des Obersten Gerichts, der Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung bei Beachtung der richterlichen Unabhängigkeit gehen, ebenso wie um Fragen des Richterdisziplinarrechts, des Beurteilungswesens, der Verwaltungsgerichtsbarkeit, des Verwaltungsverfahrensrechts, des Zwangsvollstreckungsrechts und der Korruptionsbekämpfung.
Die IRZ wird versuchen, nicht nur mit Richterinnen und Richtern zusammenzuarbeiten, sondern auch den Obersten Justizrat und wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einzubeziehen. Wie bisher wird sich die Tätigkeit der IRZ dabei auch auf die Regionen der Ukraine erstrecken. Besonderes Augenmerk wird auf der Zusammenarbeit mit dem Justizministerium liegen. Auch die Kooperation mit der Anwaltschaft soll fortgesetzt werden. Sofern im Bereich der vorsorgenden Rechtspflege des Notariats Beratungsbedarf besteht, kann auch dieser in Anknüpfung an die bisherigen Arbeiten aufgegriffen werden. Schließlich wird die erfreuliche Nachwuchsförderung mit dem Studiengang an der Universität Lwiw fortgesetzt.
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