Tunesien - Jahresbericht 2019
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- Veröffentlicht: Mittwoch, 01. Juli 2020
Strategische Rahmenbedingungen
Rechtspolitische Ausgangslage
Auch acht Jahre nach der Revolution hat Tunesien zwar bedeutende Fortschritte hin zu einem demokratischen Rechtsstaat gemacht, allerdings ist das Land politisch noch immer nicht stabil. Nachdem der 2014 demokratisch gewählte Präsident Beji Caid Essebsi Ende Juli 2019 verstorben war, fanden im September und Oktober Präsidentschaftswahlen statt, aus denen überraschend der parteilose, politisch nicht etablierte Verfassungsrechtler Kais Saied als Wahlsieger hervorging. Welchen Impuls diese Wahl letztendlich der politischen, wirtschaftlichen und rechtlichen Entwicklung des Landes geben wird, bleibt abzuwarten.
Bisher ist davon auszugehen, dass der neu gewählte Präsident Saied die von der alten Regierung eingeschlagenen drei Leitlinien beibehalten wird:
- Sicherheit und Durchsetzung des Rechtsstaats,
- Verankerung der Demokratie sowie
- Fortsetzung der wirtschaftlichen Entwicklung und Umsetzung der dafür notwendigen Projekte.
In Tunesien sind zudem dringende Reformen nötig, um das Wirtschaftswachstum anzukurbeln. Ungeachtet der schwierigen politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen treiben die tunesischen Behörden sowie die tunesische Zivilgesellschaft den rechtspolitischen und gesellschaftlichen Reformprozess weiter voran. Trotz zahlreicher Wechsel der Regierungen arbeiten viele mit unermüdlichem Engagement und großer Ernsthaftigkeit an der Demokratisierung Tunesiens.
Konzeption
Die bilateralen Projektaktivitäten der IRZ seit 2011 zur Unterstützung der Rechtsreform in Tunesien wurden Anfang 2017 durch die gemeinsame Absichtserklärung der rechtlichen Zusammenarbeit zwischen dem Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz und dem Justizministerium der Republik Tunesien weiter intensiviert. Im Rahmen dieser Absichtserklärung wurde ein erstes Arbeitsprogramm für die Jahre 2017 bis 2018 erfolgreich umgesetzt. Im Nachgang hierzu wurde ein weiteres Arbeitsprogramm für den Zeitraum 2019 bis 2020 beschlossen, mit dem sich die IRZ gegenwärtig beschäftigt. Das vom Auswärtigen Amt finanzierte Projekt zur Förderung der Justizreform in Tunesien, das die IRZ seit 2017 implementiert hatte, wurde nach mehr als zweijähriger Laufzeit erfolgreich abgeschlossen.
Der Oberste Justizrat ist nach wie vor ein zentraler Projektpartner der IRZ innerhalb der tunesischen Justiz. Er hat die Aufgabe, die Unabhängigkeit der tunesischen Richterschaft zu gewährleisten und dadurch zusätzliche Sicherheit für die Rechtsstaatlichkeit sowie für die Freiheiten und Rechte der Bürgerinnen und Bürger zu schaffen. Daher sind die Projektaktivitäten der IRZ in Tunesien vornehmlich auf die Unabhängigkeit der Richterschaft fokussiert.
Das Verfassungsgericht konnte seine Tätigkeit aufgrund fortdauernder Uneinigkeit in Bezug auf die Wahl seiner Mitglieder formal noch nicht aufnehmen. Die IRZ setzt jedoch ihre Beratungen zu verfassungsrechtlichen Fragen insbesondere in Kooperation mit der tunesischen „Vorläufigen Kommission zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzentwürfen“ fort, die bis zur eigentlichen Tätigkeitsaufnahme des tunesischen Verfassungsgerichts mit der Wahrnehmung verfassungsgerichtlicher Aufgaben betraut ist. Im Zentrum dieser Beratung stehen Fragen zur Stellung und zu den Kompetenzen eines Verfassungsgerichts im Justizsystem.
Auch die Verwaltungsgerichtsbarkeit befindet sich weiterhin in einem intensiven Reformprozess mit dem Ziel der Entwicklung und Verabschiedung eines Verwaltungsgerichtsgesetzes. Der im Zuge der Reformen eingeleitete Dezentralisierungsprozess wurde sowohl im Bereich der Verwaltung als auch in der Verwaltungsgerichtsbarkeit umgesetzt, um so einen Beitrag zur Stärkung der Selbstverwaltung zu leisten. Aufgrund des großen Beratungsbedarfs zu praktischen Fragen von Wahlstreitigkeiten und Wahlprüfungsverfahren unterstützt die IRZ das tunesische Verwaltungsgericht auch in diesem Bereich.
In Bezug auf den Strafvollzug setzt die Projektarbeit vor allem bei den Reformansätzen des von der Regierung verabschiedeten Vierjahresplans von 2015 bis 2019 zur Reform von Justiz und Gefängnissystem an. Im Zentrum der Beratungen stehen vor allem Fragen der Vollzugsplanung, der Vorbereitung der Inhaftierten auf die Entlassung sowie des Übergangsmanagements und der Resozialisierung von Haftentlassenen.
Tätigkeitsschwerpunkte 2019
Verfassungsrecht/Menschenrechte und deren Durchsetzbarkeit
- Konferenz „Verfassungsgerichte und deren Rolle bei der Sicherstellung der Rechtssicherheit“ in Tunis
- Konferenz „Verhältnismäßigkeitsprinzip: Bedeutung, Umfang und Kontrollmechanismen“ in Tunis
- Studienreise einer tunesischen Delegation zum Thema „Integrität von Verfassungsrichterinnen und Verfassungsrichtern“ nach Karlsruhe, Hamm und Düsseldorf
Zivil- und Wirtschaftsrecht
- Teilnahme tunesischer Expertinnen und Experten an der Internationalen Kartellkonferenz in Berlin
- Teilnahme tunesischer Expertinnen und Experten am Internationalen Anwaltsforum in Berlin
- Erfahrungsaustausch zum Haager Übereinkommen vom 25. Oktober 1980 über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung in Tunis
- Erfahrungsaustausch in Tunis zum Thema „Verbraucherschutz im tunesischen und deutschen Rechtssystem“
- Erfahrungsaustausch in Tunis zum Thema „Praktische Aspekte des Apostille-Verfahrens und notarielles Berufsrecht“
Öffentliches Recht
- Seminar „Wahlklagen und die rechtliche Beurteilung von Wahlergebnissen bei Wahlstreitigkeiten“ in Tunis
- Konferenz „Verwaltungsjustiz und Wahlstreitigkeiten“ in Tunis
Rechtspflege
- Seminar „Justiz und Medien“ in Tunis
- Round-Table-Gespräch zum Thema „Koordinierung der rechtlichen Zusammenarbeit mit Tunesien“
- Seminar zur Gesetzgebungstechnik in Tunis
- Erfahrungsaustausch zur Effizienz der Justiz in Tunis
Straf- und Strafvollzugsrecht
- Studienreise einer tunesischen Delegation zum Thema „Einbindung von wirtschaftlichen Akteuren und Anpassung der Ausbildungsangebote unter Berücksichtigung der Bedürfnisse des deutschen Arbeitsmarkts“ nach Berlin
- Erfahrungsaustausch in Tunis zum Thema „Korruptionsbekämpfung Mechanismen und Prävention“
- Symposium zur Praxis der internationalen rechtlichen Zusammenarbeit in Strafsachen in Berlin mit Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus den Justizministerien und Staatsanwaltschaften aus Algerien, Jordanien, Marokko, Senegal und Tunesien
Aus- und Fortbildung
- Seminar im Bereich persönlicher, sozialer und methodischer Kompetenzen in der beruflichen Praxis (Soft Skills) der Richterschaft in Tunis
Ausblick
Die für 2020 vorgesehenen Aktivitäten zielen weiterhin darauf ab, die Festigung und Umsetzung der neuen Verfassung Tunesiens von 2014 zu stärken und sowohl die Judikative als auch die Exekutive bei den anstehenden Reformvorhaben zu unterstützen. Die IRZ plant, den Aufbau des Verfassungsgerichts bis zur vollständigen Einrichtung und Aufnahme der Tätigkeit weiter zu unterstützen. Dasselbe gilt für den Obersten Justizrat, um die Unabhängigkeit der Rechtsprechung sicherzustellen. Die Projektaktivitäten werden einen weiteren Schwerpunkt auf die Bekämpfung des Menschenhandels setzen. Hinzukommen werden Beratungen und Schulungen im Bereich der Gesetzgebungstechnik, die sich vornehmlich an Projektpartner auf ministerieller Ebene richten werden. Durch die Unterstützung bei der Erarbeitung guter und wirksamer Gesetzestexte will die IRZ einen Beitrag zur Stärkung der Rechtssicherheit leisten.
Zudem wird 2020 die Umsetzung des Arbeitsprogramms zwischen dem Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz und dem Justizministerium der Republik Tunesien fortgesetzt. Das Arbeitsprogramm sieht insbesondere die Zusammenarbeit in den Bereichen des Internationalen Privatrechts, des Straf- und Strafprozessrechts, der Korruptionsbekämpfung, des Menschenrechts- und Verbraucherschutzes sowie der Unabhängigkeit der Justiz vor.