Tunesien – Jahresbericht 2021

Online-Erfahrungsaustausch im Hybrid-Format zum Thema „Urteils- und Strafvollstreckung“
Online-Erfahrungsaustausch im Hybrid-Format zum Thema „Urteils- und Strafvollstreckung“

Strategische Rahmenbedingungen 

Rechtspolitische Ausgangslage 

Die Verschärfung der Einschränkungen des öffentlichen Lebens in Tunesien aufgrund der COVID-19-Pandemie zu Beginn des Jahres 2021 führte zu einem Einbruch der Wirtschaft, verbunden mit enormen Preissteigerungen und einem weiteren Anstieg der Arbeitslosigkeit. Vor diesem Hintergrund ereigneten sich wochenlange Unruhen und Massenproteste, mit denen Bürgerinnen und Bürger Tunesiens ihre Unzufriedenheit mit der wirtschaftlichen Situation des Landes, aber auch mit dem Missmanagement bei der Bekämpfung der Pandemie zum Ausdruck brachten. Die Proteste richteten sich auch gegen die zunehmende Korruption im Land. Die Arbeit des Parlaments war zudem stark erschwert durch parteipolitische Machtkämpfe.

Mit der Zuspitzung der Infektionslage und der prekären Situation im Gesundheitswesen im Sommer des Jahres erreichten auch die Proteste einen Höhepunkt. Im Juli 2021 entließ Staatspräsident Saied unter Berufung auf Artikel 80 der tunesischen Verfassung die Regierung des amtierenden Premierministers Mechichi, suspendierte das Parlament und übernahm die Regierungsgeschäfte. Im September des Jahres weitete Saied per Präsidialdekret seine Befugnisse noch weiter aus und kann seither selbst Gesetze erlassen und die Regierungsgeschäfte weitgehend selbstständig führen.

Im Oktober 2021 vereidigte Präsident Saied eine neue Regierung. Dabei übernahm mit Najla Bouden Romdhane erstmals eine Frau das Amt der Regierungschefin in Tunesien. Die Konformität der vom Präsidenten getroffenen Maßnahmen mit der Verfassung wird nach wie vor kontrovers diskutiert. In der tunesischen Bevölkerung fanden die Maßnahmen jedoch weitgehende Zustimmung. Mit der Ernennung der neuen Regierung rückten auch andere Themen in den Vordergrund. Deren Prioritäten liegen auf der Umsetzung tiefgreifender politischer Reformen, der Konsolidierung des Rechtsstaats und der Bekämpfung der Korruption. Die zuvor begonnenen Reformen im Bereich der Justiz werden auch nach dem Regierungswechsel fortgesetzt. Die neue Justizministerin Leila Jaffel, die auf eine langjährige Berufspraxis als Richterin zurückblickt, setzt Schwerpunkte vor allem auf die beschleunigte Modernisierung und Digitalisierung der Justiz, die Förderung der Unabhängigkeit sowie die Bekämpfung und Prävention von Korruption innerhalb der Justiz.

Konzeption 

Die mit Zuwendung des Bundesministeriums der Justiz finanzierten Projektaktivitäten zur Unterstützung der Rechtsreform in Tunesien, die die IRZ seit 2011 umsetzt, basieren nach wie vor auf der Anfang 2017 geschlossenen gemeinsamen Absichtserklärung über die rechtliche Zusammenarbeit zwischen dem Bundesministerium der Justiz und dem Justizministerium der Republik Tunesien. Neben dem tunesischen Justizministerium sind auch der Hohe Justizrat sowie die Generalstaatsanwaltschaft langjähriger Projektpartner der IRZ. Je nach Themenschwerpunkt sind zudem einzelne Fachbereiche der tunesischen Gerichtsbarkeit, die Anwaltskammer, der Hochschulbereich, das im Auftrag des Justizministeriums tätige Zentrum für juristische und justizielle Studien (CEJJ) wie auch die Verbraucherschutzvereinigung wichtige Partner der Zusammenarbeit in Tunesien.

Neben den seit vielen Jahren kontinuierlich behandelten Schwerpunkten, wie z. B. der Förderung der Unabhängigkeit der Justiz, rückten unter dem Eindruck der Auswirkungen der COVID-19-Pandemie in diesem Jahr Themen wie die Digitalisierung und Modernisierung der Justiz und Justizverwaltung und der Ausbau des elektronischen Rechtsverkehrs in den Vordergrund. Fortgesetzt wurden die Beratungen im Bereich der Strafrechtsreform. Die Zusammenarbeit im Bereich des Zivilrechts wurde auf die Bereiche des Wirtschaftsrechts und des Verbraucherschutzes ausgeweitet. In den Fokus rückte zudem die Beratung im Bereich der Korruptionsbekämpfung. Das Regionalbüro in Tunis, das im Jahr 2018 eingerichtet wurde, unterstützt weiterhin die Umsetzung der Projektaktivitäten sowohl in Tunesien als auch in der gesamten Region Nordafrikas.

Tätigkeitsschwerpunkte 2021

Verfassungsrecht/Menschenrechte und deren Durchsetzbarkeit

  • Online-Seminar zum Thema „Asyl- und Aufenthaltsrecht in Deutschland“ für Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte aus Tunesien und Algerien

Zivil- und Wirtschaftsrecht

  • Erfahrungsaustausch zum Thema „Verbraucherschutz im Bankwesen in Tunesien und Deutschland“ mit dem Justizministerium, dem Bankenverband sowie der Verbraucherschutzvereinigung
  • Hybrid-Seminar zum „Haager Gerichtsstandsübereinkommen vom 6.2005“ mit dem Justizministerium, der Zivilgerichtsbarkeit sowie der Universität Tunis
  • Hybrid-Seminar zum Thema „Fachspezialisierung in der tunesischen Handels- und Wirtschaftsgerichtsbarkeit“
  • Online/Hybrid-Format „Expertengespräch zu den gesetzlichen Rahmenbedingungen des Verbraucherschutzes in Tunesien“
  • Online-Workshop zum Thema „Modernisierung des Immobiliengerichtes in Tunesien“ mit dem Immobiliengericht Tunis

Rechtspflege

  • Online-Auftaktgespräch „Digitalisierung der Justiz – Einrichtung eines Pilotgerichts für virtuelle Verhandlungen und elektronischen Rechtsverkehr in Tunesien“ mit dem Justizministerium
  • Hybrid-Seminar „Beratung zur Stärkung der rechtlichen Rahmenbedingungen im Bereich Korruptionsbekämpfung“

Straf- und Strafvollzugsrecht

  • Erfahrungsaustausch zum Thema „Urteils- und Strafvollstreckung“ mit dem Justizministerium und der Generalstaatsanwaltschaft

Aus- und Fortbildung

  • Blog für afrikanisches und deutsches Recht „IRZ Dialogue Juridique Afro-Allemand“ mit fortlaufenden Online-Publikationen in Form von Beiträgen von Autorinnen und Autoren in deutscher, arabischer und französischer Sprache zu aktuellen rechtspolitischen Themen aus den Partnerstaaten Tunesien, Marokko, Algerien und Senegal sowie aus Deutschland; 16 Blogbeiträge zu Tunesien

Von der Europäischen Union finanziertes Projekt

EU-Twinning-Projekt Tunesien zur Korruptionsvermeidung

Im März 2021 hat sich die IRZ zusammen mit Frankreich in Federführung (Expertise France, Agence Française Anticorruption) und Rumänien (Direction Générale Anticorruption) auf eine Ausschreibung der Europäischen Union für ein Twinning-Vorhaben zugunsten der tunesischen Antikorruptionsbehörde Instance Nationale de Lutte contre la Corruption (INLUCC) beworben. Im Mai 2021 erhielt das Konsortium, an dem für Deutschland die IRZ beteiligt ist, den Zuschlag zur Durchführung. Das Projekt ist Teil der europäischen Antikorruptionsstrategie.

Dieses Twinning-Projekt baut auf bisherige Fördermaßnahmen auf und verfolgt das Ziel, die Koordination und Effizienz der Arbeit der INLUCC im Rahmen des tunesischen Institutionensystems zur Korruptionsbekämpfung zu steigern.

Vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen in Tunesien ist derzeit offen, wann bzw. ob das Projekt tatsächlich beginnen kann.

Ausblick

Auch die für das Jahr 2022 vorgesehenen Aktivitäten zielen darauf ab, die Umsetzung der Rechts- und Justizreform in Tunesien zu unterstützen und sich dabei weiterhin am aktuellen Reformbedarf zu orientieren, so vor allem im Zivil- und im Wirtschaftsrecht. Die interministerielle Zusammenarbeit zwischen dem Bundesministerium der Justiz und dem tunesischen Justizministerium soll durch ein weiteres Arbeitsprogramm für die Jahre 2022 bis 2023 fortgesetzt werden. Dieses sieht insbesondere die Zusammenarbeit in den Bereichen des Internationalen Privatrechts, des Straf- und Strafprozessrechts, der Korruptionsbekämpfung sowie der Unabhängigkeit der Justiz vor.