Tunesien - Jahresbericht 2015

Länderbericht Tunesien 2015Members of the Tunisian Commission for the drafting of an Act on the Future Tunisian Constitutional Court in discussions at the Federal Constitutional Court. Also attending: Amin Mahfoudh, Head of the Commission, and Prof. Dr. Ferdinand Kirchhof, Vice President of the Federal Constitutional Court

Strategische Rahmenbedingungen

Rechtspolitische Ausgangslage

Trotz insgesamt schwieriger Bedingungen wurde der Reformprozess 2015 in Tunesien weiter fortgesetzt. Die wirtschaftliche Lage ist nach wie vor sehr labil und die Sicherheitslage angespannt. Nach der Einrichtung eines Verfassungsgerichtes 2014 sowie den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im selben Jahr befand sich Tunesien auf einem guten Wege hin zu staatlicher und gesellschaftlicher Reform. Gleichzeitig versetzten terroristische Anschläge dieser positiven Entwicklung einen schweren Rückschlag. Im März wurden 44 Menschen bei einem Überfall auf das Bardo-Museum in Tunis getötet, bei einem weiteren Anschlag im Juni starben 38 Menschen in Sousse und im November kamen 16 Menschen bei einem Anschlag auf Angehörige der Präsidentschaftsgarde ums Leben.

Trotz dieser tragischen Ereignisse trieben die tunesischen Behörden sowie die tunesische Zivilgesellschaft den rechtspolitischen und gesellschaftlichen Reformprozess weiter voran. Im Justizbereich ist hier an erster Stelle die Verabschiedung eines Gesetzes zum sogenannten hohen Justizrat zu nennen, welches nach dreijährigen, intensiv und kontrovers geführten Diskussionen die Stellung und Unabhängigkeit der Justiz im tunesischen Staatsgefüge regelt.

Auch die Verwaltungsgerichtsbarkeit befand sich weiterhin in intensiven Reformbemühungen mit dem Ziel der Entwicklung und Verabschiedung einer Verwaltungsgerichtsordnung. Dieser Prozess dauert zurzeit an. Auch im Bereich Strafvollzug sind andauernde Reformbemühungen zu verzeichnen. Die großen, strukturellen Fragen wie zum Beispiel die Überbelegung der Gefängnisse, alternative Strafsysteme, Resozialisierung von Gefangenen u.a. bedürfen nach wie vor großer Anstrengungen. Insoweit hat die tunesische Regierung einen systematischen Reformansatz entwickelt und einen Vierjahresplan (2015 – 2019) zur Reform von Justiz und Gefängnissystem verabschiedet.

Konzeption

Im Sinne des Prinzips der Nachhaltigkeit ist die IRZ auch 2015 ihren bisherigen Tätigkeitsschwerpunkten in Tunesien treu geblieben. Diese umfassen insbesondere die Verwaltungsgerichtsbarkeit, die Verfassungsgerichtsbarkeit sowie den Strafvollzug.

Exemplarisch hervorzuheben ist eine Konferenz zur Unabhängigkeit der Justiz im April 2015, die sowohl den Justizminister und hochrangige Beamte des Ministeriums als auch Parlamentarierinnen und Parlamentarier sowie Angehörige der Judikative an einen Tisch brachte. Dies geschah zu einem Zeitpunkt, an dem der Erlass eines Gesetzes über den hohen Justizrat als maßgebliche Vorschrift hinsichtlich der Organisation der Justiz unmittelbar bevorstand.

Rechtspolitisch aktuell waren auch die Veranstaltungen im Bereich des Verfassungsgerichts. Im Einklang mit der neuen Verfassung wurde eine Kommission mit der Erarbeitung eines Gesetzentwurfs über ein künftiges Verfassungsgericht ernannt. Die IRZ organisierte in diesem Zusammenhang einen Erfahrungsaustausch für Mitglieder dieser Kommission mit Richterinnen und Richtern des Bundesverfassungsgerichts. Diese Veranstaltungen fanden sowohl in Tunesien als auch am Sitz des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe statt.

Auch der fachliche Dialog im Bereich Strafvollzug wurde fortgesetzt. In bewährter Zusammenarbeit mit der Abteilung Strafvollzug der Senatsverwaltung für Justiz und Verbraucherschutz Berlin besuchten Angehörige des deutschen Strafvollzugs Tunesien. Im Gegenzug erhielten leitende tunesische Strafvollzugsbeamte die Gelegenheit, die tunesische Reformdiskussion mit konkreten Anschauungsbeispielen aus dem deutschen Vollzugsalltag zu bereichern.

Zum dritten Mal in Folge organisierte die IRZ auch dieses Jahr ein zweiwöchiges Kolloquium zum Thema "Modernes Verwaltungs- und Privatrecht". Während der in Hammamet, Tunesien, abgehaltenen Veranstaltung boten deutsche Referentinnen und Referenten aus Praxis und Lehre Einblicke in das deutsche und europäische Recht, während ihre tunesischen Kolleginnen und Kollegen in ihren Beiträgen auf die rechtliche Lage in Tunesien und anderen arabischen Ländern eingingen, wodurch ein solides Fundament für angeregte rechtsvergleichende Diskussionen geschaffen wurde. Unter den dreißig Teilnehmerinnen und Teilnehmern waren sowohl Richterinnen und Richter der Verwaltungsgerichtsbarkeit als auch Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte, was die Diskussionen aufgrund der verschiedenen Perspektiven nochmals bereicherte. Im Anschluss an das Kolloquium wurden zehn Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu einem Gastaufenthalt bei Gerichten, Anwalts- und Notarbüros in Deutschland eingeladen.

Ebenfalls zum dritten Mal veranstaltete die IRZ einen Praxisaufenthalt für tunesische Richterinnen und Richter in Deutschland. Nachdem in vorbereitenden Veranstaltungen die Grundlagen für das Verständnis des deutschen Zivil- und Strafrechts einschließlich des Prozessrechts gelegt worden waren, hatten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer Gelegenheit, nach vorbereitenden Gesprächen mit den zuständigen Richterinnen und Richtern an Zivil- und Strafverhandlungen am Landgericht Köln teilzunehmen.

Tätigkeitsschwerpunkte 2015

Verfassungsrecht / Menschenrechte und deren Durchsetzbarkeit

  • Austausch mit Richterinnen und Richtern des Bundesverfassungsgerichts in Tunesien und Deutschland

Öffentliches Recht

  • Austausch mit tunesischen Verwaltungsrichterinnen und Verwaltungsrichtern in Tunesien und Deutschland

Strafrecht und Strafvollzugsrecht

  • Fortgesetztes Austauschprogramm in Tunesien und Deutschland mit Strafvollzugspraktikern der Senatsverwaltung Berlin

Aus- und Fortbildung

  • Zweiwöchiges Kolloquium zum Thema modernes Verwaltungs- und Privatrecht für tunesische Richterinnen und Richter sowie Anwältinnen und Anwälte in Hammamet
  • Zehntägiger Praxisaufenthalt für 20 tunesische Richterinnen und Richter im Landgerichtsbezirk Köln

Ausblick

Die IRZ plant, ihr Engagement in den oben genannten Themenfeldern fortzusetzen. Sie sind allesamt von großer Aktualität und bedürfen nachhaltiger Zusammenarbeit. Ergänzend wird gegebenenfalls die Zusammenarbeit mit der Anwaltschaft und der Notarvereinigung weitergeführt. Im Bereich der Verwaltungsgerichtsbarkeit steht vor allem die Erarbeitung eines Verwaltungsgerichtsgesetzes im Vordergrund. Von Bedeutung sind auch Fragen im Zusammenhang mit der für die Jahreswende 2016/17 geplanten Kommunalwahlen. Im Mittelpunkt stehen, wie auch bereits bei den Parlamentswahlen, Fragen des Wahlrechts und der gerichtlichen Überprüfung von Wahlentscheidungen. Hinsichtlich der Verfassungsgerichtsbarkeit sollen nach der Verabschiedung eines Verfassungsgerichtsgesetzes vor allem Fragen im Hinblick auf erste Erfahrungen mit dieser neuen gesetzlichen Regelung im Vordergrund stehen.