Konferenz in Tunis zum Thema „Verhältnismäßigkeitsprinzip: Bedeutung, Umfang, Kontrollmechanismen“
- Details
- Veröffentlicht: Freitag, 17. Januar 2020
Am 18. und 19. Dezember 2019 organisierte die IRZ in Kooperation mit der Vorläufigen Kommission zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzentwürfen (IPCCPL) und dem Obersten Justizrat Tunesiens eine zweitägige Konferenz in Tunis zum Thema „Verhältnismäßigkeitsprinzip: Bedeutung, Umfang und Kontrollmechanismen“. Die Veranstaltung fand im Rahmen des Projekts zur Justizreform in Tunesien statt, das die IRZ von 2017 bis 2019 umgesetzt hat. Das Projekt wurde durch das Auswärtige Amt gefördert.
Die Konferenz ist Teil der Projektkomponente III, die den Aufbau des tunesischen Verfassungsgerichts begleitete. Die Einrichtung eines Verfassungsgerichts war in der tunesischen Verfassung von 2014 festgeschrieben worden.
Die Veranstaltung befasste sich mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, dessen Bedeutung und historische Verankerung im deutschen und tunesischen Recht sowie mit Fragestellungen zur Eignung des Prinzips für einen maßvollen Umgang mit Grenzen, Herausforderungen und Abwägungen im verfassungsrechtlichen Kontext.
Auf tunesischer und deutscher Seite referierten folgende Expertinnen und Experten:
- Prof. Dr. Sami Jerbi, IPCCPL und Professor für Privat- und Handelsrecht der Juristischen Universität Sfax, Tunesien
- Winfried Schubert, Präsident des Landesverfassungsgerichts Sachsen-Anhalt a.D.
- Sondes Bachnaoui, Richterin am Verwaltungsgericht der nordtunesischen Provinz Kef
- Prof. Dr. Reinhard Gaier, Richter des Bundesverfassungsgerichts a.D.
- Prof. Dr. Mustapha Ben Letaief, Professor für Öffentliches Recht an der Juristischen Fakultät der Universität Tunis, Tunesien
Die Expertin und die Experten führten die in Tunesien nicht gegebene Rechtseinheitlichkeit innerhalb der Gesetzesauslegung durch Richterinnen und Richter auf das Fehlen eines funktionalen tunesischen Verfassungsgerichts zurück. Ohne dessen Existenz stelle die Durchsetzung einheitlicher Grundsätze im „einfachen“ Recht für die Mitglieder der obersten Gerichte ein Problem dar. In Tunesien betrifft dies die Kassationsrichterinnen und Kassationsrichter sowie die Verwaltungsrichterinnen und Verwaltungsrichter. Denn die Verabschiedung verfassungswidriger Gesetzgebung könne nur durch ein Verfassungsgericht widerrufen werden. Die Abwesenheit dieses Kontrollorgans behindere auch die einfache zivil- und strafrechtliche Rechtsprechung im Allgemeinen und suggeriere Rechtsunsicherheit für alle gerichtlichen Instanzen.
Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wurde gemeinhin als geeigneter Test für die Sprechung und Anwendung von Recht unter den tunesischen Teilnehmerinnen und Teilnehmern wahrgenommen und findet immer häufiger Anwendung nicht nur im öffentlichen Recht, sondern auch in ähnlicher Form im tunesischen Zivil- und Strafrecht.
Seit den Parlamentswahlen im September und Oktober 2019 in Tunesien arbeitet die tunesische Regierung unter dem neu gewählten parteilosen Präsidenten Kais Saied mit Nachdruck daran, ein arbeitsfähiges Verfassungsgericht zu errichten. Nachdem das Gesetz zur Einrichtung eines Verfassungsgerichtsgesetzes in Kraft getreten ist, könnte das Gericht formal seine Arbeit aufnehmen, jedoch wird dies durch die Uneinigkeit des Parlaments zur Auswahl geeigneter Kandidatinnen und Kandidaten für das Richteramt verhindert.
Bis zum Zeitpunkt der vollumfänglichen Funktionsfähigkeit des tunesischen Verfassungsgerichts berät die IRZ die IPCCPL mit fachlicher Expertise. Es ist das Ziel dieses Projekts, die politischen und juristischen Institutionen der Judikative wie auch Exekutive dabei zu unterstützen, ihre in der Verfassung verankerten Funktionen auszuführen. Konkret sieht die IRZ vor, die bisher geleistete rechtsstaatliche Unterstützung zu verstetigen. Die Erreichung der gesetzten Ziele wird jedoch noch eine gewisse Zeit erfordern.